Literaturnobelpreis 1927: Henri Bergson

Literaturnobelpreis 1927: Henri Bergson
Literaturnobelpreis 1927: Henri Bergson
 
Der Franzose erhielt den Nobelpreis »in Anerkennung seiner reichen und belebenden Ideen und der brillanten Kunst, mit der sie vorgetragen wurden«.
 
 
Henri Bergson, * Paris 18. 10. 1859, ✝ Paris 3. 1. 1941; 1878-81 Studium an der École normale supérieure in Paris, 1881-98 Gymnasiallehrer, 1889 Promotion, 1898 außerordentlicher Professor an der École normale, 1900 Lehrstuhl am Collège de France, 1914 Wahl in die Académie française, 1917 auf diplomatischer Mission in den USA, um die Regierung von der Notwendigkeit der Teilnahme am Weltkrieg zu überzeugen.
 
 Würdigung der preisgekrönten Leistung
 
Mit Henri Bergson erhielt einer der weltweit einflussreichsten und bekanntesten Philosophen seiner Zeit den Nobelpreis. Der Höhepunkt seiner Popularität lag damals jedoch schon einige Jahre zurück, nämlich in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, nachdem »Schöpferische Entwicklung« (1907) erschienen war. Damals strömte die Pariser »Gesellschaft« in Bergsons Vorlesungen am Collège de France, um sich durch seine auch in der Improvisation geschliffene Sprache verführen zu lassen. Bergsons Fähigkeit, seine Thesen in einer ebenso eleganten wie eindringlichen Sprache niederzulegen, wurde auch zur Begründung der Vergabe des Nobelpreises an den Philosophen angeführt. Bergsons Einfluss ließ sich auch an Zahl und Statur seiner Gegner ablesen, darunter die katholische Kirche, die seine Schriften 1914 auf den Index verbotener Bücher setzte.
 
 Zeit und Freiheit
 
Als Grundlegung von Bergsons gesamtem Denken können seine Überlegungen zum Verhältnis von Zeit und Bewusstsein gelten, die in seiner Doktorarbeit (nach deutschen Maßstäben eine Habilitationsschrift) »Zeit und Freiheit« (1889) niedergelegt sind. Bergson glaubte, dass man mit dem Wesen der Zeit auch die Quelle der menschlichen Freiheit erfassen könne. Denn die Zeiterfahrung war für Bergson das Muster jeder Bewusstseinserfahrung und damit der Wirklichkeit selbst, sie ist einmalig und unwiederholbar und wird in Form des Gedächtnisses immer wieder neu aktualisiert. Die Erinnerung, die Dauer herstellt, ist von der immer gegenwärtigen Zeiterfahrung nicht zu trennen. Die abstrakte Repräsentation der Zeit durch Messwerkzeuge ist nur ein Notbehelf. In der augenblicklichen psychologischen Erfahrung offenbart sich die Wirklichkeit der Welt wie die persönliche Identität auf eine ursprüngliche, nicht reduzierbare Weise.
 
»Zeit und Freiheit« enthält Ansätze zu einer psychophysiologischen Theorie des Gedächtnisses, die Bergson in »Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist« (1896) weiterentwickelte. Bergson unterschied darin die Materialität des Gehirns von der spezifischen Tätigkeit des Geistes, die die gespeicherten isolierten Wahrnehmungen im Gedächtnis verbindet, in Bewegung setzt, ihnen damit erst Bewusstseinsqualität verleiht und »den Stempel der menschlichen Freiheit« aufdrückt.
 
Bergsons Interesse an der Qualität der Zeit ließen ihn bald auf die von Einstein formulierten Theorien stoßen. Doch seine Auseinandersetzung mit Einstein scheiterte — wie Bergson später selbst zugab — an nicht ausreichenden Kenntnissen der Mathematik.
 
 Die Intuition
 
Philosophiehistorisch wird Bergson gewöhnlich jener Strömung zugerechnet, die in Deutschland als »Lebensphilosophie« bekannt ist und auch als »Modernismus« oder »Neoromantizismus« bezeichnet wird. Sie begegnete der Wissenschaftsgläubigkeit und dem kühl kalkulierenden Positivismus des 19. Jahrhunderts mit dem Hinweis auf die unerschöpfliche, unvorhersehbare und unwiederholbare Schöpfungskraft, die jedem Leben innewohnt. Bergson war jedoch kein sektiererischer Irrationalist, er blieb immer ein ernst zu nehmender Philosoph. Er bestritt nicht die praktische Wirksamkeit der analytischen Verstandestätigkeit, aber er bestritt, dass sie die Wirklichkeit vollständig zu erfassen vermag. Vielmehr wählt sie lediglich solche Bestandteile der Wirklichkeit aus, die im Hinblick auf die menschlichen Bedürfnisse von Interesse sind. Insofern ist das analytische Vorgehen eine wichtige Bedingung unseres Überlebens. Der Verstand vermittelt daher nur ein selektives und damit verzerrtes Bild der Realität. Doch wir besitzen daneben ein Organ, das uns die Welt auf eine unmittelbare und einmalige Weise nahe bringt, die Intuition. Bergson hat diesen Begriff in seiner Abhandlung »Einleitung in die Metaphysik« (1903; enthalten in der Aufsatzsammlung [1934], »Denken und schöpferisches Werden«) eingeführt. Während die Analyse subjektiv, von Interessen und Standpunkten bedingt ist, besitzt die Intuition eine absolute, objektive Qualität. Sie lässt uns das Wesen der Dinge unmittelbar, und zwar durch sympathetisches Eindringen erfassen.
 
 »élan vital«
 
Nicht nur mit dem Konzept der Intuition konnte Bergson die intellektuelle Fantasie seiner Zeit beschäftigen. Mit dem Begriff des »élan vital« (»Lebensschwungkraft«) konnte er eine weitere erfolgreiche Begriffsschöpfung in Umlauf bringen. Bergson nahm an, dass die Materie, für ihn das Prinzip der Trägheit und Beharrlichkeit in der Welt, nicht das einzige sein könne, was die Welt ausmacht. Daraus schloss er auf ein schöpferisches, bewegendes Element, das die Lebensprozesse antreibt und Entwicklung erst möglich macht. Sie ist im Großen, in den Evolutionsprozessen der Natur, ebenso am Werk wie im Kleinen, in der individuellen Existenz. Bergson besteht darauf, dass der »élan vital« keine vorhersagbaren Mechanismen abspult oder auf eine bestimmbare Finalität hinausläuft, vielmehr ähnelt er der schöpferischen Kraft, die geniale, originäre Kunst hervorbringt und dabei auch in Sackgassen und Fehlentwicklungen münden kann.
 
Bergson hat den Begriff des »élan vital« vor allem in »Schöpferische Entwicklung« ausgearbeitet. Er ist schlagartig berühmt geworden und hat eine enorme suggestive Kraft entfaltet, die sicherlich auch mit dem Unbehagen am damals vorherrschenden darwinistischen Konzept einer mechanistischen Evolution zusammenhängt. Der Begriff wurde jedoch auch für seine begriffliche Leere, seinen mangelnden Erklärungswert und seine Dunkelheit kritisiert, die ihm eine gewisse okkulte Qualität gab.
 
Zu Beginn des Jahrhunderts wusste Bergson offensichtlich den Nerv seiner Zeit zu treffen. Nicht ohne Anlass wurde sein Denken mit Maurice Maeterlincks (Nobelpreis 1911) dunklen Schicksalsdramen, Claude Debussys flutenden Harmonien und Marcel Prousts Romanen über Gedächtnis und Identität in Verbindung gebracht. Bergsons Philosophie blieb bis in die 1930er-Jahre hinein wirksam, als mit »Die beiden Quellen der Moral und der Religion« (1932) sein letztes großes Werk erschien, und beeinflusste besonders die Existenzphilosophie, die jedoch eine eigenständige Entwicklung nahm. Nach dem Zweiten Weltkrieg geriet Bergson in Vergessenheit und gilt heute allenfalls noch bei Philosophiehistorikern als lohnendes Studienobjekt, auch wenn das hohe Niveau seines Denkens weiterhin unbestritten ist.
 
J. Zwick

Universal-Lexikon. 2012.

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